Der Hirsch und die Sonntagsreden
Stern filmt u.a. auch Szenen aus einer Trophäenschau in Zwiesel im Bayerischen Wald. Vor Wänden voller Hirschgeweihe, sowie mit Ansprachen voll von peinlichem Pathos, wird dort „das ehrliche Ringen zwischen Mensch und Tier im edlen Waidwerk“ gepriesen. Gnadenlos entlarvend die Szene, bei der ein grün uniformierter Jagdfunktionär in martialischer Pose eine Festrede hält und dabei bekennt, dass nur der edel gesinnte Waidmann die Geschöpfe der Natur am Wegesrand gebührend beachtet und dass nur er dazu auserlesen sei, dem edlen Wild gerecht zu werden.
Horst Stern, ein Meister der filmischen Darstellung, unterlegt diese höchst peinliche Rede mit Filmszenen, bei der zwei Jäger einem eben erlegten Hirsch mühevoll die Eingeweide aus dem Leib zerren und dem Tier anschließend mit einer Art Machete das Haupt vom Rumpf abschlagen. Schließlich posiert der Erleger mit entrücktem Blick neben dem Torso des geweihgekrönten Hirschhaupts fürs Fotoalbum.
Ein seinerzeit hochrangiger Jagdfunktionär erklärt anlässlich der Veranstaltung, dass der Vorwurf, die Jäger betrieben nur Trophäenkult, natürlich unzutreffend sei. Die bei der Trophäenschau präsentierten Geweihe dienten einzig dem Zweck, zu zeigen, dass die Jagd einen gesunden Wildbestand zum Ziel hat. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass dem Herrn der Schock noch in den Knochen steckt. Mit empörter Miene berichtet der Jagdverbandschef von einer, tags zuvor im Münchner Merkur erschienen Forderung eines namhaften Vertreters der damals aufkommenden Ökologiebewegung. Dieser habe allen Ernstes gefordert, dass landesweit sieben von acht Hirschen dringend „erschossen“ werden müssten.
Nach bekanntem Muster: Wer Reformen anmahnt, wird zum Ketzer
Eine Festrede der besonderen Art präsentiert der Stern´sche Film dann mit dem Auftritt des damals stellvertretenden Nationalpark-Leiters, Oberforstmeister Dr. Georg Sperber, der damals für das Jagdwesen im Nationalpark zuständig war.
Neben seiner zutiefst erschütternden Bilanz über all die vielfältigen Schäden, welche vom Harz bis in die Alpen durch die maßlose Überhege des Rothirsches hervorgerufen werden und letztlich von den Bürgern und Steuerzahlern getragen werden müssen, prangert er zusätzlich die immensen ökologischen Nachteile an, die durch die Überhege des Rotwildes hervorgerufen werden.
Besonders kommt er dabei darauf zu sprechen, dass inzwischen 30 000 ha Schutzwälder in den bayerischen Alpen ihre Schutzwirkung immer mehr eingebüßt hätten. Diese Wälder vergreisen, weil der Aufwuchs an Jungwald infolge des Verbisses durch Schalenwild nicht mehr stattfindet, so Sperber. Der Förster Sperber spricht in der „Wir“-Form und bekennt sich damit dazu, selbst Jäger zu sein. Er spricht von der notwendigen Einsicht „in unseren eigenen Reihen“. Er fordert die Verantwortlichen auf, den im Verbandsjargon häufig zitierten Leitspruch, „Jagd sei angewandter Naturschutz“ ernst zu nehmen. Dazu sei es unverzichtbar, die Überhege des Rotwildes zu Lasten der Wälder endgültig zu beenden.
Ein Sinneswandel von innen konnte in der damals besonders konservativ ausgerichteten Jägerschaft ebenso wenig gelingen wie heute. Inzwischen besteht ein gesamtgesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Wälder mithilfe einer größeren Baumartenvielfalt gegen die Erderwärmung widerstandsfähiger gemacht werden müssen und überbesetzte Schalenwildbestände diesen Bestockungswandel gravierend behindern.
Trotzdem fehlt es bei der etablierten Jägerschaft immer noch an der nötigen Einsicht, sich mit dem Waldbesitz solidarisch zu erklären. Und dies, obwohl immer deutlicher wird, dass immer mehr Jäger an der Basis die antiquierten Parolen über die traditionelle Schalenwildhege kaum noch ernst nehmen und ein zunehmendes Unbehagen empfinden wegen der schwindenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Jagd.
Wald ohne Wild? – Die ewig alte Leier
In seinem Schluss-Resümee prangert Horst Stern das häufig geführte Jägerwort vom „Wald ohne Wild, ein toter Wald“ mit aller Entschiedenheit an. Diese gebetsmühlenartig vorgebrachte Metapher aus den Reihen der Jägerschaft verrät nach seinen Worten die erstaunliche Missachtung des überaus vielfältigen Lebens in der Waldlebensgemeinschaft und degradiert den Wald zur Kulisse der Jagd.
Nach Sterns Ansicht wäre ein Wald ohne Wild in der Tat ein armer Wald, den aber in Wirklichkeit niemand wolle. Niemand sei auch grundsätzlich gegen die Jagd. Doch wenn riesige Naturräume wie die Alpen oder der Bayerische Wald durch Wildansammlungen wie zu Zeiten der Feudalherrschaft an den Rand des Ruins gebracht würden, sei es an der Zeit, über die Privilegien einiger weniger auf Kosten der Allgemeinheit öffentlich zu reden.
Zweieinhalb Jahrzehnte nach Sterns Stunde
In der Fernsehreihe „Zeugen des Jahrhunderts“ mit dem Untertitel „Natur in die Köpfe“ fand im Jahr 1998 beim ZDF ein Interview mit Horst Stern statt, in dem seine Biographie und sein gesamtes journalistisches und literarisches Lebenswerk beleuchtet wurde. Sterns „Bemerkungen über den Rothirsch“ nimmt dabei einen außerordentlich breiten Raum ein.
Dabei wird offensichtlich, dass gerade dieser Film von all seinen Beiträgen die meiste gesellschaftliche Wirkung hervorgerufen hat.
Nach Sterns Rothirschfilm war die Jagd in Deutschland nicht mehr, wie sie vorher war. Mehrere Parlamente beschäftigten sich mit den Auswirkungen überhöhter Schalenwildbestände. Die Politik befasste sich mit der Notwendigkeit, die Abschüsse von Reh- und Rotwild deutlich anzuheben.
Der schlimmste Vorwurf, den die Jäger Horst Stern machten, bestand darin, er hätte die Rolle der Jagd vollkommen falsch dargestellt. Nach Sterns Auffassung war sie jedoch, so wie sie damals ausgeführt wurde, ein sportliches Hobby, Schießen auf bewegte Ziele, und sonst nichts. Stern wollte inzwischen nicht ausschließen, dass es heute unter den Jägern Bestrebungen gibt, mehr ökologisch zu wirken und nicht nach der Masse des Geweihs zu jagen, sondern nach Maßstäben, welche durch die Natur vorgegeben sind.
(Immerhin wurde zehn Jahre vor dem Interview, im Jahre 1988 in München der Ökologische Jagdverband gegründet, wobei Horst Stern an der Gründungsveranstaltung als interessierter Beobachter teilgenommen hatte).
Pressefreiheit – ein hohes Gut
In seiner Nachlese zum Rothirschfilm kommt Horst Stern auch auf massive Angriffe der Jägerlobby auf seine Berufsausübung zu sprechen. Diese war in der Tat nicht unerheblich bedroht. Forstwissenschaftler der drei Universitäten von Freiburg, Göttingen und München wandten sich damals an den Intendanten, Prof. Bausch vom Süddeutschen Rundfunk und versicherten, dass Stern in seinem Film in der Tat uneingeschränkt die Wahrheit vertreten hätte. Die Forstwissenschaftler sicherten dem Intendanten damals ihre volle Rückendeckung zu. Stern in dem Fernsehinterview: „Ich konnte schließlich weitermachen“.
Gleichlautend war die Erklärung des damaligen Bayerischen Landwirtschaftsministers Dr. Hans Eisenmann, dass die in der Fernsehsendung über den Rothirsch getroffenen Aussagen von Horst Stern voll der Wahrheit entsprächen. Der bis heute hochangesehene, leider viel zu früh verstorbene Minister zog sich damit nicht gerade die Sympathien seines, wie jeder weiß, traditionell jagenden Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß ein.
„Der Wald ist mein Lebensthema geworden“
Mit diesem, anlässlich des Fernsehinterviews von 1998 abgegeben Bekenntnis, erklärt sich das beispiellose Engagement von Horst Stern für den Wald. Über das leidige Wildthema hinaus, hat Horst Stern viel dazu beigetragen, dass die ökologischen Aspekte der Wälder, insbesondere die dringende Abkehr von reinen Nadelwäldern hin zu artenreichen Mischwäldern in ein breites Publikum hinausgetragen wurden.
Dass Horst Stern nach seinem siebenjährigen Aufenthalt in Irland schließlich seinen Lebensabend in Passau, also in der Nähe (seines) Bayerischen Waldes verbracht hat, darf nicht verwundern. Seine Liebe zu den Wäldern des Nationalparks Bayerischer Wald wird auch ersichtlich aus seinem Wunsch, man möge nach seinem Tode seine Asche in diese Wälder verbringen.
Karl Heinrich Knörr, Walpertskirchen.
Bevor der Autor Leiter des Bayer. Forstamts Bad Kissingen wurde, war er einige Jahre lang Stellvertretender Forstamtsleiter bei Dr. Georg Sperber am Steigerwald-Forstamt Ebrach.